08.10.2015. Radikale Verzweiflung bei Karl Ove Knausgård, melancholische Phantastik bei Kazuo Ishiguro, moralische Primaten bei Frans de Waal und schräge Erkenntnisblitze bei Neil MacGregor. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Weitere Anregungen finden Sie in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den älteren
Bücherbriefen.
Literatur Karl Ove Knausgård TräumenRoman
Luchterhand Literaturverlag, 800 Seiten, 24,99 Euro
Wer sich auf
Karl Ove Knausgårds autobiografisches Epos einlässt, wird süchtig, warnen die Kritiker - und stürzen sich auf diesen fünften des auf sechs Bände angelegten Zyklus. Um den Weg und die quälenden
Selbstzweifel des angehenden Schriftstellers in der Schreibakademie geht es in diesem Band, aber auch um Heirat, Seitensprünge, Saufgelage und Reisen. So unspektakulär das geschilderte Alltagsleben, so "spektakulär ist jedoch die
Radikalität, mit der Knausgård dieses Leben in einer schmucklosen, melodiös schlingernden, von Paul Berf zuverlässig ins Deutsche übertragenen Prosa detailliert beschreibt",
meint Gerrit Bartels im
Tagesspiegel. Der Autor besitzt "die literarische Fähigkeit, das Normale in den Aggregatzustand emotionaler und existenzieller Hochspannung zu versetzen",
erklärt Ursula März im
DradioKultur den Erfolg des Zyklus. In der
FAZ wird Felicitas von Lovenberg auch diesmal "vom
gewaltigen Strom des Erzählens mitgerissen", und in der
FR gibt sich Christian Bos dem "unverwechselbaren Knausgård-Flow" hin. In ausführlichen Gesprächen mit Richard Kämmerlings (
Welt) und Gabriela Herpell (
SZ-Magazin) gibt Knausgård Auskunft über sein Leben und Schreiben.
Laksmi Pamuntjak Alle Farben RotRoman
Ullstein Verlag, 672 Seiten, 24,00 Euro
Die bis heute nicht aufgeklärte, geschweige denn verarbeitete
Ermordung Hunderttausender Oppositioneller unter der Diktatur von General Suharto sind das düsterste Kapitel der indonesischen Geschichte. In ihrem Roman "Alle Farben Rot" nähert sich die Lyrikerin und Journalistin
Laksmi Pamuntjak dem Thema in Form einer Spurensuche der 62-jährigen Protagonistin Amba nach ihrem Geliebten Bhisma, der 1965 auf die Gefangeneninsel Buru verbannt wurde. Der Autorin gelingt so "ein
einfühlsames Porträt der indonesischen Gesellschaft seit den einschneidenden politischen Umbrüchen der 1960er-Jahre",
lobt Julia Raabe in der
Presse. Marc Reichwein
betont in der
Welt, dass die indonesische Geschichte mit ihrer ideologischen Konfrontation von Kommunismus und Antikommunismus für deutsche Leser besonders interessant ist. Und in der
NZZ empfiehlt Claudia Kramatschek, sich der für westliche Leser zunächst irritierenden, "so mühe- wie fraglosen
Verschränkung von Mythos und Realität, Fakt und Fiktion, Übersinnlichem, Realismus und Geschichtslektion" einfach hinzugeben.
Kazuo Ishiguro Der begrabene RieseRoman
Karl Blessing Verlag, 416 Seiten, 22,99 Euro
Kazuo Ishiguros neuer Roman "Der begrabene Riese" ist in einem von
Menschenfressern und Kobolden bevölkerten Sagenreich angesiedelt, es gibt Ritter und Drachen und einen magischen Nebel des Vergessens. Zugleich spielt er im England des sechsten Jahrhunderts, einer Epoche, über die praktisch keine Aufzeichnungen existieren und die Phantasie notgedrungen die Leerstellen füllen muss. "Exakt an der Übergangsstelle
zwischen historischem und phantastischem Erzählen"
positioniert daher Daniel Kehlmann in einer hymnischen Rezension für die
FAZ dieses "Meisterwerk". "Der begrabene Riese" ist "kein historischer Roman, kein Werk der Fantasy-Literatur, kein postmodernes Epos und keine erzählende Allegorie. Er ist von all diesem etwas und zugleich
mehr und anderes als die Summe dieser Teile",
sekundiert Hubert Spiegel im
DLF begeistert. Dabei ist es seine "Qualität des Emotionalen", eine melancholische Grundstimmung, die den Roman aus der Masse der Mittelalter- und Fantasy-Literatur weit hinaushebt,
meint Burkhard Müller in der
SZ. Im Gespräch mit Thomas David (
Welt)
erläutert Ishiguro, warum er die Geschichte in einer mythischen Welt angesiedelt hat.
Liliana Corobca Der erste Horizont meines LebensRoman
Zsolnay Verlag, 192 Seiten, 18,90 Euro
Der Vater arbeitet in einem sibirischen Bergwerk, die Mutter hütet in Italien die Kinder anderer Leute. Zuhause in Moldawien zurückgeblieben sind die zwölfjährige Cristina und ihre kleinen Brüder Dan und Marcel. Doch mit Pippi Langstrumpf hat die
elternlose Kindheit in
Liliana Corobcas Roman "Der erste Horizont meines Lebens" wenig zu tun. Der Autorin "gelingt es mit ihrem beharrlichen Blick aufs Detail, der fast schon an die
emotionale Schmerzgrenze reicht, die kosmische Einsamkeit dieser Kinder in Worte zu fassen",
staunt Dirk Schümer in der
Welt ergriffen. In der
NZZ hebt Andreas Breitenstein hervor, dass der Roman "mit hellwachem Realismus auch den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen
Zerfall des bäuerlichen Milieus" nachzeichnet. Im Gespräch mit Ingo Petz (
Standard)
spricht Corobca über die Hintergründe der Geschichte: "Man sagt, dass es rund 100.000 Kinder in Moldawien gibt, die nur mit einem Elternteil aufwachsen oder sogar ganz ohne Eltern."
Ilija Trojanow Macht und WiderstandRoman
S. Fischer Verlag, 480 Seiten, 24,99 Euro
Auf das Duell zwischen dem Widerstandskämpfer Konstantin und dem Offizier Metodi verdichtet Ilija Trojanow im Roman "Macht und Widerstand" die
totalitäre Vergangenheit Bulgariens. Indem er die extensive Recherche, die er dafür betrieb, in Form von echten Biografien und Originalakten der Staatssicherheit in den Text montiert, gelingt ihm "ein Geschichts-Buch im doppelten Sinne", wie Dirk Knipphals in der
taz feststellt. Wer es liest, erfährt "auf eine Weise, wie nur Literatur Erfahrung ermöglicht", wie das
Leben im Kommunismus aussah,
staunt Martin Ebel in der
Welt. Für Hans-Jost Weyandt (
SpOn) hätte das Buch "dringend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gehört". Im
DLF lobt Christoph Vormweg, dass Trojanow für seine Recherche eine "komplexe, sehr
anspruchsvolle literarische Form" gefunden hat. "Der politische Ertrag des Buches ist am Ende größer als der literarische",
meint hingegen Jörg Magenau in der
SZ, und auch Sabrina Wagner
erkennt im
Tagesspiegel "zu viel politische Absicht und zu wenig Erzählung". Fürs
DradioKultur hat sich Andrea Gerk mit Ilija Trojanow
unterhalten.
Sachbuch Frans de Waal Der Mensch, der Bonobo und die Zehn GeboteMoral ist älter als Religion
Klett-Cotta Verlag, 365 Seiten, 24,95 Euro
Wer meint, die Moral sei mit den zehn Geboten oder sonstigen göttlichen Eingebungen in die Welt gekommen, wird von
Frans de Waal eines Besseren belehrt. In seinem Buch "Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote" untersucht der niederländisch-amerikanische Primatenforscher das Zusammenleben von
Schimpansen, Kapuzineräffchen und vor allem Bonobos auf moralische Verhaltensmuster. Mit dieser "Bottom-up"-Perspektive bringt de Waal Moralität und Religion mit der Evolution in Einklang, stellen die Rezensenten Burkhard Müller (
SZ) und Julia Fischer (
FAZ) fasziniert fest und empfehlen diese
assoziations- und anekdotenreiche Studie auch und besonders interessierten Laien. Im Gespräch mit Andrea Seibel (
Welt) und Arno Widmann (
FR) erläutert de Waal seine Thesen: "Wenn wir bei anderen Spezies auf moralisches Verhalten oder doch Ansätze dazu stoßen, dann ist sehr wahrscheinlich, dass
unsere Vorfahren vor einer Million Jahren, als es noch keine Religion gab, doch bereits moralische Wesen waren."
Andreas Rödder 21.0Eine kurze Geschichte der Gegenwart
C. H. Beck Verlag, 494 Seiten, 24,95 Euro
Eine Globalgeschichte und
Gegenwartsanalyse mit Fokus auf Komplexe wie Digitalisierung, globalisierte Wirtschaft, Energiewende, Klimawandel oder EU -
Andreas Rödder hat sich in seiner Studie "21.0" viel vorgenommen. Und die Rezensenten sind beeindruckt, wie der Mainzer Historiker auf knapp 500 Seiten die Gegenwart materialreich und multidisziplinär auf Fortschrittspotenziale untersucht. Als "
acht spannende Bücher in einem"
preist Hans-Peter Schwarz in der
FAZ den Band für seinen multidisziplinären Ansatz: "Rödders Belesenheit ist schlechthin stupend, und so fragt man sich schon, wann der Mann eigentlich schläft." Auch Thomas Schmid
attestiert dem Autor in der
Welt "stupende Belesenheit" und staunt, wie Rödder über die Grenzen seines Fachs hinausgreift und Ergebnisse der Soziologie ebenso einbezieht wie die der Politikwissenschaft, der Makroökonomie und der Philosophie: "Schön, dass einmal ein Historiker den Mut hat, wie ein
akademisch bestens gerüsteter Taugenichts in die Ferne zu ziehen."
Neil MacGregor DeutschlandErinnerungen einer Nation
C. H. Beck Verlag, 640 Seiten, 39,95 Euro
Nicht erst mit der aufsehenerregenden
Ausstellung "Germany: Memories of a Nation", die im vergangenen Jahr im British Museum eröffnete, hat sich der schottische Kunsthistoriker
Neil MacGregor als profunder Kenner und kompetenter Vermittler der deutschen Geschichte erwiesen. Dass er auch Deutschen Interessantes über Land zu erzählen weiß, stellt er in seinem Buch "Deutschland. Erinnerungen einer Nation" unter Beweis, wie die Rezensenten feststellen. "Es ist ein kluges, unwahrscheinlich kenntnisreiches Buch, es macht Spaß",
stellt Hannah Lühmann in der
Welt fest und staunt, wie der Autor Objekte "wie Handpuppen" zum Sprechen bringt. Als "
Puzzle voller schräger Erkenntnisblitze" und "leicht monströse Bildungsreise"
beschreibt Sabine Vogel das Buch in der
FR. Der künftige Intendant des Humboldt-Forums liefert nicht nur die gegenwärtig
beste kulturhistorische Einführung in die deutsche Geschichte,
meint Jens Bisky (
SZ), er "trifft in eine Situation, in der das Land, es mag wollen oder nicht, sich wieder einmal neu erfindet". Im
DradioKultur sind sechs Ausschnitte aus dem Buch zu hören, bei
BBC Radio 4 stehen dreißig viertelstündige Episoden auf Englisch zum Anhören und Herunterladen bereit.
Samar Yazbek Die gestohlene RevolutionReise in mein zerstörtes Syrien
Nagel und Kimche Verlag, 176 Seiten, 19,90 Euro
Der
Bürgerkrieg in Syrien ist mit den Flüchtlingen wieder ein wenig in den Blick gerückt. Wovor genau diese fliehen, schildert die syrische Autorin
Samar Yazbek in ihrem Buch "Die gestohlene Revolution". Dass die Autorin dabei das "reale
Gleichgewicht des Schreckens" wiederherstellt, indem sie den medial überrepräsentierten Gräueltaten des Islamischen Staates die nicht minder grässlichen Untaten des Assad-Regimes gegenüberstellt,
findet Angela Schader in der
NZZ verdienstvoll. Im
DradioKultur hebt Moritz Behrendt die "klare und dennoch
literarische Sprache" der Berichte hervor: "Niemals sind ihre Bilder abgedroschen, dafür ist sie zu nah dran." Auf
Qantara unterhält sich Yazbek mit Rosa Gosch über das Leben und Schreiben im Exil: "Ich bin innerlich genauso zerrissen wie mein Heimatland." Im Gespräch mit Korbinian Frenzel im
DradioKultur lehnt sie den Plan einer westlichen Allianz mit Assad im Kampf gegen den IS ab: "Wie kann man mit einem Kriegsverbrecher zusammen gemeinsam andere Verbrecher bekämpfen?"
Ian Bostridge Schuberts WinterreiseLieder von Liebe und Schmerz
C. H. Beck Verlag, 405 Seiten, 29,95 Euro
Der britische Spitzentenor
Ian Bostridge hat der "Winterreise" von
Franz Schubert bereits eine CD, eine Fernsehbearbeitung und an die hundert Konzerte gewidmet, nun setzt er sich in seinem Buch "Schuberts Winterreise" eingehend mit
Kontext und Wirkung des 24 Lieder umfassenden Zyklus auseinander. Zugute kommt dem Autor dabei, dass er auch promovierter Historiker ist. In der
Welt kommt Elmar Krekeler aus dem Schwärmen nicht heraus: "unfassbar klug" sei das Buch, und eine reine "
Wunderkammer". In der
ARD ergänzt Dagmar Penzlin: "Nicht zu vergessen: Ian Bostridge kann schreiben - anschaulich, mit Sinn für
berührende, einprägsame Details." Im
Guardian beschreibt Bostridge, was die "Winterreise" für ihn bedeutet.