08.02.2016. Walser in Bestform, Ivan Vladislavics Tryptichon Südafrikas, Handkes glänzende Literaturkritiken für Radio Steiermark, Alexander Ilitschewskis Kaukasusepos "Der Perser" und ein Prachtband übers Reisen - dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Februar.
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Literaturbeilagen, der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturMartin WalserEin sterbender MannRoman
Rowohlt Verlag 2016, 288 Seiten, 19,95 Euro
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Ein neuer Walser ist immer noch ein Ereignis, wie die dutzendfache Besprechung am Erscheinungstag beweist. Und die meisten Kritiker lasen einen Martin Walser
in Bestform. Ganz in seinem Element und auf der Höhe seiner Meisterschaft
sieht etwa Helmut Böttiger (
SZ) den Autor in dieser Liebesgeschichte zwischen einem älteren Herrn in festgefahrener Ehe und beruflicher Klemme und einer glutäugigen Tangotänzerin. In der
FR hebt Judith von Sternburg die virtuose Vielstimmigkeit dieses Briefromans hervor, der selbst den Duktus von Selbsthilfe-Foren im Internet mit
parodistischer Präzision treffe. Als "ein Sprachkunstwerk, ein
Sprachverschönerungskunstwerk" und möglicherweise Vermächtnis Walsers
liest Gerrit Bartels im
Tagesspiegel den Roman. Auch
FAZ-Rezensent Friedmar Apel
ringt dieses "trickreiche Kunststück" mit seinen
falschen Fährten und doppelten Böden Respekt ab. Eher ermüdet oder genervt zeigen sich hingegen Richard Kämmerlings, der in der
Welt Glaubwürdigkeit
vermisst, und Roman Bucheli (
NZZ), dem die Figuren wie "Sprechpuppen an der Hand des Autors"
erscheinen. Für die
FAZ hat Julia Encke ein
langes Gespräch mit dem Autor
geführt.
Alexander IlitschewskiDer PerserRoman
Suhrkamp Verlag 2016, 750 Seiten, 36 Euro
"Jetzt hat
der Kaukasus sein großes, wuchtiges, allumfassendes Epos bekommen",
jubelt Johannes Kaiser im
Dradio Kultur, "sprachverliebt, wortmächtig, von berückender, geradezu
atemberaubender Poesie und fantastisch übersetzt." Gegenstand dieser Hymne ist Alexander Ilitschewskis Roman "Der Perser", der anhand der Geschichte einer Freundschaft die
Geschichte Aserbaidschans im Laufe der letzten Jahrhunderte entfaltet. Als "Weltpanorama im Breitbandformat, aber auch als sprudelnder Brunnen ungebremster Fabulierlust"
erscheint Ulf Heise (
MDR) der Roman, in dem er "einen der exotischsten und zugleich imponierendsten Texte der vergangenen Jahre" erkennt. In der
SZ freut sich Christoph Schröder über den
klugen Anmerkungsapparat, den er bei der fordernden Lektüre dringend gebrauchen kann. Alle Rezensenten rühmen zudem die großartige Übersetzung durch
Andreas Tretner.
Ivan VladislavicDouble NegativeRoman
A1 Verlag 2015, 256 Seiten, 19,80 Euro
Anhand von Momentaufnahmen und Nebensächlichkeiten entfaltet Ivan Vladislavić in seinem Roman "Double negative" ein detailreiches
Tryptichon Südafrikas, stellen die Rezensenten beeindruckt fest. Der Johannesburger Autor erzählt darin vom jungen Studienabbrecher Neville Lister und dessen Foto-Projekt, das die Zustände
während und nach der Apartheid abbildet. In der
SZ fühlt sich ein hellauf begeisterter Alex Rühle an W.G. Sebald und Teju Cole erinnert und staunt: "Wie kann man nur
derart elegant einen Roman schreiben, der zugleich dokumentarisches Panorama über 30 Jahre Südafrika ist, persönliche Hommage an den großen Fotografen
David Goldblatt, und ein Text über den fragilen Wert von Erinnerungen?" Im britischen
Independent hebt Neel Mukherjee die Meisterschaft hervor, mit der Vladislavićs Prosa
fiktionale und nichtfiktionale Formen in Einklang bringt, während Claudia Kramatschek den Roman im
Dradio Kultur für die "
hohe Kunst der Beiläufigkeit"
lobt. Für die
White Review hat Jan Steyn ein Interview mit dem Autor
geführt.
Abbas KhiderOhrfeigeRoman
Carl Hanser Verlag 2016, 224 Seiten, 19,90 Euro
Ein Roman über einen
Flüchtling und die bürokratischen Schikanen, die ihn in Deutschland erwarten - manche Rezensenten fürchteten da einen opportunistischen, elig zusammen geschusterten "Roman der Stunde". Tatsächlich aber sind die Themen Flucht, Widerstand und Exil die Lebensthemen des bereits Mitte der Neunzigerjahre aus dem Irak emigrierten
Abbas Khider,
weiß Fatma Aydemir, die in der
taz besonders die "beachtliche Portion Humor" hervorhebt, die der Autor seinen Figuren bei aller Bitterkeit zugesteht. In der
FAZ zeigt sich Julia Encke vom "reduzierten Stil und dem manchmal rauhen Tonfall" des Romans eingenommen, und Hubert Spiegel bewundert dessen
dunkle poetische Kraft. Auch Ursula März
äußert sich im
Dradio Kultur beeindruckt von "diesem ebenso eindringlichen wie raffinierten Roman". Ein kräftiger Verriss kam von Ijoma Mangold, der das Buch in der
Zeit als "schludrig", "betulich" und "langweilig" kritisierte. Für
Spiegel Online hat sich Kaspar Heinrich mit Khider
getroffen, im
Dradio Kultur hat sich Dieter Kassel mit dem Autor
unterhalten.
Laszlo GaracziMetaxaRoman
Droschl Verlag 2015, 160 Seiten, 19 Euro
Neun Jahre hat es gedauert bis László Garaczis Roman "Metaxa" auf Deutsch erschienen ist - und die Rezensenten wurden für das lange Warten mehr als entschädigt. Die Geschichte um einen jungen
Orchesterbratschisten, der bei einer Konzertreise in die USA eine schicksalhafte Begegnung macht, an der seine Beziehungen, seine Karriere und sein Verstand zugrunde gehen, hat die Kritiker hin- und mitgerissen. Einen
130-seitigen Satzstrom ohne einen einzigen Punkt, aber mit enormer Zugkraft hat der Autor entfesselt,
stellt Cornelius Hell im
ORF beeindruckt fest und hebt die Leistung des Übersetzers György Buda hervor, der "Großartiges geleistet und diese
Ausnahme-Prosa überzeugend auf Deutsch instrumentiert" hat. Und in der
NZZ versichert Ilma Rakusa emphatisch: "Dem ungarischen Wortkünstler László Garaczi ist - einmal mehr - ein
Glanzstück gelungen."
SachbuchRainer Wieland (Hg.)
Das Buch des ReisensVon den Seefahrern der Antike zu den Abenteurern unserer Zeit
Propyläen Verlag 2015, 496 Seiten, 48 Euro
So unterschiedliche Stimmen wie Herodot und Marco Polo, Mark Twain, Amelia Earhart, Bruce Chatwin und David Foster Wallace versammelt Rainer Wieland in seiner
Anthologie authentischer Reiseberichte von der Antike bis in die Gegenwart. Als "enzyklopädisch im besten Sinn: eine gleichermaßen umfassende wie sinnhaft selektive Textauswahl"
beschreibt Ursula März in der
Zeit den Band und versichert: "Man liest sich sofort fest." "
Sehnsucht und Fernweh" hat dieses "Prachtwerk" bei ihm geweckt,
bekennt Günther Wessel im
Dradio Kultur. Und Katharina Klöber
stellt in der
FR fasziniert fest, dass das Reisen auch in Zeiten, in denen Landkarten keine weißen Flecken mehr aufweisen, nichts von seinem Reiz und Abenteuer verloren hat. Für die
Welt hat sich Bettina Seipp mit Wieland
unterhalten.
Werner BuschAdolph MenzelAuf der Suche nach der Wirklichkeit
C. H. Beck Verlag 2015, 304 Seiten, 58 Euro
Als Offenbarung feiert die Kritik Werner Buschs Monografie über den Maler
Adolph Menzel (1815-1905). Dem Berliner Kunsthistoriker sei es gelungen, die unfassbaren
Ambivalenzen in Menzels Werk gleichberechtigt zu behandeln, keine Hierarchisierung zwischen gelungenem Früh- und reaktionärem Spätwerk einzuführen, wie es andere vor ihm getan haben,
freut sich Eduard Beaucamp in der
FAZ. Andrea Gnam (
NZZ) und Barbara Möller (
Welt) begrüßen den Band als
neues Standardwerk, auch wenn sie sich etwas an Buschs psychologisierenden Einlassungen über Menzels Kleinwüchsigkeit stören. Für den Zeit-Rezensenten Florian Illies
macht hingegen gerade Buschs psychologisches Einfühlungsvermögen die Monografie zum
wichtigsten kunsthistorischen Buch der Saison: "Dieser fulminante Band besticht durch die Souveränität und die Frische seiner Deutungen - so kann nur schauen und schreiben, wer
knietief im Stoff steht." Und Eva Hepper
konstatiert gar im
Dradio Kultur: "So muss man über Kunst schreiben."
Victor Sebestyen1946Das Jahr, in dem die Welt neu entstand
Rowohlt Verlag 2015, 544 Seiten, 26,95 Euro
1946 war "das Jahr, in dem die Welt neu entstand", wie Victor Sebestyens Darstellung der Ereignisse nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs denn auch im Untertitel heißt. Einzelne Länder beleuchtet der Autor dabei genauso präzise wie prägende Personen,
lobt Wolfgang Schneider in der
Welt das "inhaltlich bedrückende, aber sehr informative und spannend geschriebene Buch". Antworten auf gegenwärtige politische Fragen liefert Sebestyen nicht,
meint Martin Hubert im
DLF, aber er fördere "
historische Nachdenklichkeit", weil er dazu einlade, "die inneren Spannungen und Widersprüche unserer unmittelbaren Vorgeschichte unterhalb etablierter Deutungsmuster zu besichtigen". Der Autor kann hervorragend "Geschichte in Ausschnitten pointiert und reportagehaft erzählen",
findet Andreas Fanizadeh in der
taz: "Vor allem gelingt es ihm dabei,
teils schockierende, teils unterhaltsame Episoden in eine analytische Gesamtdarstellung zu fügen."
Peter HandkeTage und WerkeBegleitschreiben
Suhrkamp Verlag 2015, 287 Seiten, 22,95 Euro
In zwei Punkten sind sich die Rezensenten über den Band "Tage und Werke", der verstreute Notizen, Besprechungen, Kommentare und Essays von Peter Handke versammelt, einig. Darin, dass die Aufzeichnungen über
Handkes Leseerfahrungen unbedingt lesenswert und - nicht nur für die Handke-Lektüre - bereichernd sind. Vor allem aber darin, dass die eigentliche Sensation des Bandes in den zwischen 1964 und 1966 für die Sendung "Bücherecke" auf
Radio Steiermark entstandenen Rezensionen besteht. Gebannt
verfolgte für die
NZZ Leopold Federmair, wie der junge Autor sich darin "geistig den Boden bereitet für alles, was er später schaffen sollte". Tobias Schwartz
hebt in der
taz hervor, dass Handke, für damalige Verhältnisse höchst unüblich, auch
popkulturelle Themen berücksichtigte. In der
SZ zeigt sich Lothar Müller beeindruckt, wie Handke mit Größen wie Adorno oder Benjamin umgeht: "nicht respektlos, aber unbefangen". Und im
Dradio Kultur stellt Helmut Böttiger verblüfft fest: "Peter Handke ist ein sehr guter Literaturkritiker!"
Daniele GiglioliDie OpferfalleWie die Vergangenheit die Zukunft fesselt
Matthes und Seitz 2015, 126 Seiten, 14,90 Euro
Auf dem Schulhof mag "Opfer" noch als Schimpfwort taugen, im gesellschaftlichen Diskurs ist
die Opferrolle längst zu einer Trumpfkarte geworden, mit der Identitätskollektive um Anerkennung und Reparationen kämpfen, argumentiert der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli in seinem Essay. Sehr fruchtbar
findet Anne-Catherine Simon in der
Presse Gigliolis Überlegungen für aktuelle Debatten wie die Flüchtlingskrise im Allgemeinen und die Vorfälle von Köln im Besonderen. Wenn der Autor "die Rollen der öffentlichen Rede und die
verhängnisvolle Logik der Opferideologie" analysiert, etwa mit Blick auf die Debatten um Political Correctness, Plagiate oder Pornografie,
ist das für den
SZ-Rezensenten Jens Bisky geradezu "elektrisierend". "Es ist die schrumpfende Gestaltungsmacht, die die globalisierten Individuen zu
frohen Opfern macht - durch ihre Selbstverstümmelung, die sie zu Recht als ihr Erfolgsrezept begreifen",
fasst Eike Gebhardt im
Dradio Kultur zusammen. Elisabeth von Thadden
vermisst in der
Zeit indes bisweilen Differenzierung und Konkretisierung, etwa hinsichtlich tatsächlich unschuldiger Opfer, die es bei aller Instrumentalisierung des Begriffs doch auch gibt. In einem Essay im
Perlentaucher umreißt Giglioli seine Kernthese.