24.01.2002. Der berühmteste französische Soziologe ist in Paris einer Krebserkrankung erlegen. Hier finden Sie einige Links zu Pierre Bourdieu und, weiter unten, die aktuelle Presseschau vom 25. Januar.
Der berühmteste französische Soziologe ist in Paris einer Krebserkrankung erlegen. Hier finden Sie einige
Links zu Pierre Bourdieu und, weiter unten, die
aktuelle Presseschau vom
25. Januar.
Pierre Bourdieu galt als ein
Soziologe der Eliten - und war als solcher auch extrem umstritten. In den letzten Jahren hatte er sich stark an der Seite sozialer Bewegungen
in Frankreich engagiert und immer wieder eine "Internationale der Intellektuellen"
gefordert. Kritiker merken an, dass ihm dieser Wunsch schon deshalb versagt blieb, weil er diese Internationale auch immer anführen
wollte.
Was ergibt eine
Recherche zu Bourdieu im Netz? In
Frankreich ist das Internet leider unterentwickelt. So ist der erste Link, auf den man stößt, wenn man "Pierre Bourdieu" bei
Google eingibt, ein finnischer: Die
Universität von Turku (oder Turun?), hält eine
gut gefüllte Seite mit "Links to sites related to Pierre Bourdieu" bereit. An zweiter Stelle finden wir immerhin eine
französische Adresse über den "
sociologue enervant", die einige Texte von Bourdieu präsentiert, deren jüngster allerdings aus dem Jahr 2000 stammt. Eine weitere dem Denker gewidmete
Seite bietet die
Universität von Virginia - hier scheint vor allem in einem
Forum über Bourdieu diskutiert zu werden.
Bourdieu, der als einer der Vordenker der
Antiglobalisierer und linken Medienkritiker gelten darf, war Professor am
College de France. Hier finden wir auch einen Link auf das von ihm gegründete
Centre de sociologie europenne an der Ecole des hautes etudes en sciences sociales. Bourdieu hat auch die Zeitschrift mit dem umständlich akademischen Titel
Actes de recherche en sciences sociales gegründet, deren Internetadresse nur Inhalts- und Autorenverzeichnisse bietet. Er stand aber auch
Le Monde diplomatique nahe, dem Zentralorgan der Globalisierungsgegner, für das er
mehrere Beiträge verfasste. In Deutschland sind von ihm zuletzt die
"Pascalianischen Meditationen" und
"Gegenfeuer" erschienen.
Beim Blick in
amerikanische Zeitschriften mit ihren wohlsortierten Archiven finden wir einen längeren
Artikel von
Edward Said für
The Nation aus dem letzten Jahr über die öffentliche Rolle des Intellektuellen, der sich unter anderem auch mit
Bourdieu auseinandersetzt - der Intellektuelle war eines der Lieblingsthemen des Soziologen. Die
New York Review of Books verzeichnet nur
zwei Artikel aus den siebziger und achtziger Jahren, was nicht unbedingt für einen großen Einfluss
Bourdieus in den USA außerhalb der akademischen Sphäre
spricht.
Die
französischen Zeitungen haben schnell reagiert. Bei
Le Monde, die Bourdieus Tod auf Papier natürlich noch nicht melden konnte, finden wir einen Artikel direkt als
Aufmacher der Homepage. Verlinkt wird außerdem auf einen
Artikel aus dem März 2001 über das
letzte Seminar Bourdieus am College de France. Thema war er selbst
- denn Bourdieu war Anhänger einer "selbstreflektiven" Soziologie. Und als einen der
Mandarine der Wissenschaft konnte er sich selbst ja kaum vernachlässigen. Auch
Liberation stellt die Meldung gleich auf die
Homepage und bietet ein
Forum: "Que restera-t-il de Bourdieu?"
Presseschau vom 25. Januar Auf die Reaktionen in der
deutschen Presse haben wir im wesentlichen schon in unserer
Feuilletonpresseschau vom Tage verwiesen. Einige Ergänzungen seien nachgetragen. In der
Berliner Zeitung schreibt der Philosoph
Ulrich Johannes Schneider: "Das
Wort sozial wird bei Bourdieu zu einem Begriff, der insbesondere Werturteile und bewusst gelebte Vorurteile einschließt. Bourdieu versuchte, dieses Geflecht des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchsichtig zu machen und er ärgerte sich am stärksten über die
Autoritätsanmaßung der Gebildeten, wie man am deutlichsten seinem soziologischen Versuch über
Heideggers Sprache entnehmen kann, das ein einziges Plädoyer für Klarheit und Aufrichtigkeit ist." Verlinkt sei ferner auf den
Nachruf von Rolf Spinnler im
Tagesspiegel. Im
Neuen Deutschland finden wir eine
kleine Hommage von Konstantin Wecker. Und in der Welt
konstatiert Matthias Kamann: "Oft erkennt man in Bourdieus Analyse sozialer Distinktionsstrategien eine
tiefe Verletztheit. Als kämpfe er unablässig mit der Frage: Wie ist es möglich, dass meine Feinde
genauso gebildet und stilsicher sind wie ich und meine Freunde?"
In der internationalen Presse interessieren natürlich in erster Linie die
französischen Reaktionen.
Le Monde bietet ein
ganzes Dossier an, zu dem auch
Reaktionen von Staatspräsident
Jacques Chirac und Premier
Lionel Jospin gehören. Zu den Rektionen zählt auch ein kleines
Interview mit
Jacques Derrida: "Wir hatten Debatten, wir hatten
Differenzen, vor allem über seine Betrachtung des philosophischen Feldes. Aber wir haben uns oft
Seite an Seite engagiert, vor allem für die Immigranten."
Auch
Liberation bietet ein
Riesendossier gleich auf ihrer Homepage. Besonders interessant hier ein
kleines Interview mit
Pascal Bruckner, der als einer der wenigen die
Zwiespältigkeit Bourdieus benennt, der ein
Kritiker der Mandarine war, aber eben auch ein
Mandarin. "Er war selbst eine universitäre Machtgestalt, die niemand
sich offen in Frage zu stellen traute. Bourdieu fühlte sich von jenen angezogen, die er seitenweise kritisierte. Diesen Hang hatte er natürlich nicht allein: Man wählt sich immer die
Feinde, denen man am nächsten
steht." Etwas revanchistisch klingt der
Artikel über den "intellectuel enrage" von Joseph Mace-Scaron im konservativen
Figaro. "Wenn dieser Soziologe etwas offenbart, dann die
extreme Schwäche eines gewissen Typs des französischen Intellektuellen." Aber dann beschreibt Mace-Scaron gerade eine Stärke
Bourdieus: das
Netzwerk, das er an den französischen Universitäten strickte und das dazu führte, dass man jenseits von Bourdieu
in Frankreich kaum Soziologie betreiben kann. Interessant wäre es hier, einen Nachruf von
Alain Touraine zu lesen, der in Frankreich stets als Bourdieus
Kontrahent galt und an der selben Ecole des hautes etudes wie Bourdieu ein
Institut leitete.
Hinweisen wollen wir schließlich darauf, dass
Arte am Samstag sein
Programm ändert und um 21.45 Uhr ein Gespräch zwischen
Günter Grass und
Bourdieu aus dem Jahr 1999 zeigt. Dieses Gespräch war seinerzeit auch in der
Zeit abgedruckt und ist in ihrem Archiv noch
zugänglich.