9punkt - Die Debattenrundschau

Röntgen schon länger

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2024. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie empört sich über die Verurteilung der Dozenten, die ein Camp antiisraelischer Studenten auf dem Campus der FU Berlin als Beitrag zur Meinungsfreiheit verstanden wissen wollten. Die FAZ fragt: Könnten wir auch mal über die Gedanken hinter dieser Meinung reden? In der FR fragt Wolfgang Kraushaar, welche Folgen unsere Staatsräson eigentlich hätte, würde der Iran Israel ernsthaft angreifen. Auf ZeitOnline glaubt der Philosoph Dag Nikolaus Hasse weder an ein jüdisch-christliches noch an ein von einer bestimmten Kultur geprägtes Europa: Er setzt auf Vielvölkerstädte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.05.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, ein ehrwürdiger, von Max Weber begründeter Verband mit 3.500 Mitgliedern, veröffentlicht eine Stellungnahme zum Berliner Dozentenaufruf und zur Räumung eines Camps antiisraelischer Studenten auf dem Campus der FU. Besondere Empörung äußert das Papier über "mediale Diffamierung und personalisierte, pauschale Verurteilung von Lehrenden" und spielt auf die mit "Universitäter" betitelte Bild-Zeitungsseite an, die einige der Unterzeichner des Aufrufs namhaft gemacht hatte. "Es ist zutiefst beunruhigend, dass in einer aktuellen Kampagne … Wissenschaftler - darunter auch jüdische und renommierte Forscher zum Nationalsozialismus, der Shoah und im Bereich des Antisemitismus - durch Massenmedien individuell angeprangert und (ausgerechnet) in Deutschland als 'Täter' (sic!) diffamiert werden. Es scheint, dass dabei bestimmte Disziplinen (so auch die Soziologie) und Forschungsfelder (etwa die Postcolonial Studies) als angeblich per se politisch und antisemitisch ins Visier genommen werden." Das ausschließlich von der Vorsitzenden Paula-Irene Villa Braslavsky gezeichnete Papier will sich nicht inhaltlich zum Gegenstand des Protests äußern, verurteilt Antisemitismus, verwahrt sich aber auch nicht gegen Forderungen der Demonstranten, die eine Einstellung der Zusammenarbeit mit israelischen Unis fordern - um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit scheint es dem Papier also nicht zu gehen.

Wer sich in seiner Meinungsfreiheit behindert fühlt, soll doch einfach klagen, meint Jürgen Kaube in der FAZ, entnervt von den Behauptungen, wir lebten in einer Zeit des McCarthyismus in Deutschland, weil die Polizei ein paar Studenten vom Universitätsgelände entfernt. Noch mehr nervt ihn aber die Heuchelei dieses Diskurses. Dazu gehört für ihn auch die Behauptung, man sei in der Sache neutral. "Wird behauptet, 'There is only one solution, intifada revolution', führt die advokatorische Tiefenhermeneutik dazu, den Begriff der 'Intifada' von den Terrortaten zu lösen, die in seinem Namen begangen worden sind. Es könne damit auch etwas anderes als Terror gemeint sein. Wir wollen die Möglichkeit nicht ausschließen, aber ist damit etwas anderes als Terror gemeint? Es heißt dann, solche Parolen seien 'nicht notwendig' mit der Zerstörung des Judenstaates verbunden. Dass sie empirisch auf das Ende Israels hinauslaufen und dass dieses Ende weltweit von den Antisemiten gewünscht ist, bleibt außer Betracht." Kaube wüsste auch gern, ob solche argumentativen Finessen auch gälten, wenn "Nazis mitdemonstrieren".

In der FAZ kritisiert Andreas Kilb das neue Gedenkstättenkonzept Claudia Roths, weil es den Unterschied zwischen staatlich organisierten Verbrechen (in NS-Deutschland und in der DDR) und den Verbrechen verwische, die Einzelne oder Gruppen gegen andere Einzelne oder Gruppen begehen (wie z.B. die NSU-Morde): "Der grundsätzliche Denkfehler des Rahmenkonzepts ist die Verwechslung von Staat und Gesellschaft. Die Gesellschaft muss die Zuwanderer integrieren, ihre Leistungen würdigen, ihre Rechte schützen, aber der Staat muss ihnen keine Denkmäler bauen." Auch die "narrative Verknüpfung" des Holocaust und der Kolonialverbrechen stößt Kilb auf: Denn "der Zusammenhang zwischen dem Holocaust, der Gründung Israels und der deutschen Garantie seiner Existenz ist kein Narrativ, sondern eine historische Tatsache, während die Behauptung kolonialer Kontinuitäten in der Politik 'des Westens' gegenüber Afrika und der arabischen Welt in der Tat ein Ideologem des postkolonialen Denkens darstellt."
Archiv: Gesellschaft

Europa

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Wir müssen den "historischen Ballast" von Europa abwerfen, fordert im ZeitOnline-Gespräch der Philosoph Dag Nikolaus Hasse, der in seinem 2021 erschienenen Essay "Was ist europäisch?" über die "Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen" nachdenkt und nicht nur den Begriff vom "christlich-jüdischen Abendland" kritisiert: Dieser werde mit dem Ziel gebraucht, das muslimische Europa auszublenden. Auch einen kulturellen Europa-Begriff lehnt er ab, da sich in dessen Folge eine bis heute präsente "Denkform der Überlegenheit" entwickelt habe: "Zum Beispiel, wenn wir Menschen, die hierherkommen, nahelegen, sie sollten die Aufklärung nachholen. Dabei sollten wir uns erst einmal erkundigen, welche Formen der Aufklärung und Rationalität diese Zuwanderer aus ihren eigenen Herkunftsländern kennen. Ich meine also nicht die Auseinandersetzung mit kolonialer Ausbeutung, so wichtig diese auch ist. Mir geht es um die Kritik an Traditionen europäischer Arroganz und Selbstüberhebung, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen." Auch den Begriff der "westlichen Werte" will er streichen, da wir so Regimes in China, Russland oder dem Iran in die Hände spielen würden. Die EU müsse stattdessen für "universelle Werte" eintreten, die Zukunft Europas sieht er in Vielvölkerstädten, in denen verschiedene Gruppen friedlich nebeneinander leben, während der Staat geltendes Recht im Einzelfall, aber nicht "pauschal" durchsetzt.

Die russischen Angriffe auf Charkiw werden immer brutaler, anders als in den Jahren 2022 und 2023 warfen die Russen selbst an Ostern Bomben auf Charkiw, schreibt der vor Ort lebende Schriftsteller Sergei Gerasimow in der NZZ. Viele alte Menschen empfinden den Krieg schlimmer als den Zweiten Weltkrieg, erfährt er. "Es kursieren drei Haupttheorien, warum die Russen dies alles tun. Die erste besagt, dass es sich um eine Rache für unsere Angriffe auf russische Ölraffinerien und den Beschuss von Belgorod handle. Die zweite, dass sie einfach ein pragmatisches, durch ihr allgemeines Konzept der Kriegsführung diktiertes Verhalten an den Tag legten, zu dem grundlegend Terror und Völkermord gehörten. So sieht die moderne Kriegsführung der Russen aus, und so haben sie immer schon gekämpft, in Afghanistan, Georgien und Syrien. Es wäre seltsam, wenn sie jetzt anders vorgehen würden. Gemäß der dritten Theorie handelt es sich um die Vorbereitung einer neuen Offensive auf Charkiw, und diese besteht darin, die gesamte Energie- und die zivile und militärische Infrastruktur sowie alle Industriebetriebe zu zerstören und die Einwohner zu zwingen, die Stadt zu verlassen."

Auf ZeitOnline erinnert Alan Posener daran, dass Gewalt gegen Politiker für AfD-Mitglieder nichts Neues ist, auch wenn man darüber nicht gern spricht: "Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD (PDF) geht hervor, dass die Partei bis einschließlich 2022 mit Abstand am häufigsten Opfer politischer Straftaten wurde, von Beleidigungen und Bedrohungen über Sachbeschädigungen - inklusive Brand- und Sprengstoffanschlägen - bis hin zu tätlichen Angriffen. Da sprach aber niemand von 'Verrohung der Gesellschaft'."
Archiv: Europa

Politik

Wenn man zynisch wäre, könnte man sagen: Im Gaza-Krieg sterben immer weniger Menschen. Die UNO hat jedenfalls die Opferzahlen des Konflikts erheblich nach unten korrigiert, auch wenn das in den Medien bisher noch kein großes Echo auslöste. Im proisraelischen Jewish News Syndicate werden die neuen offiziellen Opferzahlen referiert: "Am vergangenen Mittwoch veröffentlichte das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) aktualisierte Zahlen zu den Opfern. Demnach starben bis zum 30. April 7.797 Kinder im Gazastreifen - ein Rückgang von etwa 42 Prozent gegenüber den Zahlen von Mitte März. Auch die Zahlen für Frauen wurden um fast die Hälfte reduziert - von mehr als 9.500 auf weniger als 5.000." In diesem Video einer Pressekonferenz nimmt Farhan Haq, der stellvertretende Sprecher des UNO-Generalsekretärs Stellung zu den Zahlen: "Im Nebel des Krieges ist es schwierig, Zahlen anzugeben." Mehr hier in der Jerusalem Post und hier bei franc-tireur.fr. Auch die taz berichtet.

Buch in der Debatte

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In einem längeren FR-Interview mit Michael Hesse hält der Politologe Wolfgang Kraushaar, dessen aktuelles Buch "Israel: Hamas - Gaza - Palästina" wir vorgeblättert haben, die aktuellen Proteste an den Universitäten nicht für "pauschal" antisemitisch, vielmehr glaubt er, dass sich in deren Folge einiges ändern wird. In den USA und auch in der EU habe "sich die Einsicht durchgesetzt, dass man solange keine pauschale Solidarisierung mit Israel praktizieren kann, solange man es mit einer illiberalen Regierung zu tun hat, in der Rechtsradikale mit am Kabinettstisch sitzen. Die Bundesregierung versucht sich diesem Problem gegenüber wegzuducken. Bundeskanzler Scholz ist nach dem 7. Oktober sofort Angela Merkel gefolgt und hat sich darauf berufen, dass die Existenzsicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei. (…) In unserem Grundgesetz kommt der obrigkeitsstaatlich aufgeladene Begriff der Staatsräson bezeichnenderweise nicht vor. Zudem ist es eine offene Frage, ob man die Sicherheit eines anderen Staates überhaupt zum Bestandteil der eigenen Staatsräson machen kann. Und wenn es wirklich Ernst mit der Existenzbedrohung Israels würde, dann müsste das ja eine militärische Beistandspflicht zur Folge haben. Wenn etwa der Iran Israel ernsthaft angreifen würde, dann wäre es wohl die Aufgabe der Bundeswehr Israel militärisch beizustehen. Was das bedeutet, vermag sich hierzulande aber offenbar niemand so recht vorstellen zu wollen, weshalb sich die Politik im Hinblick auf solche Konkretisierungen auch lieber ausschweigt." Welche Konsequenzen es hätte, Israel die Solidarität zu verweigern, sagt Kraushaar allerdings auch nicht.

Wenn das sozialistische Kuba jemals mit etwas punkten konnte, dann mit seiner fortschrittlichen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik. Damit ist es inzwischen aber auch vorbei, erklärt in der taz der Politikwissenschaftler Knut Henkel: "Der Vorsprung bei den Sozialindikatoren, den Kuba lange gegenüber den USA hatte, ist dahin, und die Aussichten sind alles andere als positiv, so der kubanische Demograf und Ökonom Juan Carlos Albizu-Campos. Ein zentraler Grund dafür ist laut Experten die Covid-19-Pandemie, ein anderer die Erosion der Versorgung im Gesundheitssystem. Chronischer Medikamentenmangel, das Fehlen von OP-Bedarf, von Desinfektionsmitteln bis zur Bettwäsche ist in vielen kubanischen Kliniken heute Alltag. ... Kubanische Ärzte, aber auch Pflegepersonal machen sich genauso wie Fachpersonal aus sonstigen Sparten auf den Weg ins Ausland, weil sie von ihrem Lohn in Kuba nicht leben können. Die Schere zwischen Lebenshaltungskosten und Löhnen klafft von Monat zu Monat immer weiter auseinander. Der Mindestlohn von 2.100 Peso cubano reicht gerade, um sich sechs Pfund Bohnen oder drei Pfund Schweinefleisch zu kaufen. Davon sind auch Besserverdiener wie Ärzte, die zwischen 5.000 und 10.000 Peso cubano verdienen, betroffen. Die Frage nach der persönlichen Perspektive auf der Insel wird immer öfter mit: no hay, gibt es nicht, beantwortet."
Archiv: Politik

Wissenschaft

Fragmente der sogenannten Herculaneum-Papyri, die Details über Leben und Sterben Platons enthalten, sind lesbar gemacht worden. Die Gräzistin Gyburg Uhlmann erklärt im Welt-Gespräch, weshalb das so spektakulär ist: "Dieses Fragment aus der 'Geschichte der Akademie' sagt nun eindeutig, dass Platons Grab im Garten neben dem Museion zu verorten ist, also innerhalb der Akademie. Das ist spektakulär, wie es eigentlich immer spektakulär ist, wenn man neue antike Texte entdeckt. Das geschieht ja jetzt immer häufiger, dank der verschiedenen, auch mich begeisternden neuen Methoden - Röntgen schon länger, jetzt auch KI - mit denen man verkohlte, zusammengebackene und nicht mehr entrollbare Papyrusrollen lesbar machen kann."
Archiv: Wissenschaft

Medien

In Belarus wurde die Deutsche Welle als extremistisch eingestuft, berichtet in der taz Barbara Oertel. Damit sind dort alle DW-Inhalte verboten. Die belarusische Regierung ging dabei stufenweise vor: "Zunächst wurde die DW-Webseite gesperrt. Im März 2022 verpassten die belarussischen Behörden der DW-Berichterstattung das Label 'extremistisch'. Die Folgen der stufenweisen Demontage sind spürbar und erfüllen genau den Zweck, den das Regime beabsichtigt: Hatte der DW-Telegram-Kanal Anfang 2021 noch 15.000 Abonnenten, liegt deren Anzahl nun bei unter 10.000. In Belarus werden Smartphones von der Polizei kontrolliert und die Besitzer genötigt, unliebsame Telegram-Kanäle und Apps zu löschen." Kaum ein Trost: DW Belarus steht nicht allein, "laut der Nichtregierungsorgansiation Reporter ohne Grenzen (ROG) nimmt Belarus auf ihrer aktuellen Rangliste der Pressefreiheit den 167. Platz von 180 Staaten ein".
Archiv: Medien