Efeu - Die Kulturrundschau

Nicht mehr als ein Feigenblatt

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14.05.2024. Der im Iran zu Haft und Peitschenhieben verurteilte Filmemacher Mohammed Rasoulof ist aus seiner Heimat geflohen und befindet sich in Europa: auf Instagram teilt er seinen bitteren Abschied plus Kampfansage. Bald beginnt das Filmfestival in Cannes: Man bereitet sich auf MeToo-Proteste im großen Stil vor, meldet die taz. Die FAZ findet es einfach nur abscheulich, wie viel Hass der israelischen Sängerin Eden Golan beim ESC vom Saalpublikum entgegenschlug. Und die FAZ muss bei Jan van Eycks Rolin-Madonna im Louvre ganz genau hinschauen und entdeckt Virtuoses.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2024 finden Sie hier

Film

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Der in Iran vor einer Woche zu einer achtjährigen Haftstrafe plus Peitschenhiebe verurteilte Filmemacher Mohammed Rasoulof ist aus seiner Heimat geflohen und befindet sich in Europa, melden die Agenturen. Die Reise ging offensichtlich durchs Grenzland in den iranischen Bergen, wie dem oben eingebundenen Instagram-Posting zu entnehmen ist. Im Text dazu erfahren wir Weiteres: "Wenn der geografische Iran unter den Stiefeln Eurer religiösen Tyrannei leidet, so lebt der kulturelle Iran in den Köpfen von Millionen Iranern weiter, die wegen Eurer Unterdrückung und Barbarei gezwungen waren, das Land zu verlassen." Es ist ein bitterer Abschied mit Kampfansage: "Ab heute bin ich Bewohner des kulturellen Iran. Ein grenzenloses Land, das Millionen Iraner mit alter Geschichte und Kultur in jeder Ecke der Welt gebaut haben. Und sie warten ungeduldig darauf, dich und deine Unterdrückungsmaschine in den Tiefen der Geschichte zu begraben." Die Presseagentur seines neuen Films kommt auch auf die Repressalien zu sprechen, denen er und seine Crew zuletzt ausgesetzt waren: "Bevor die Geheimdienste der Islamischen Republik über die Produktion meines Films informiert wurden, konnten einige der Schauspieler den Iran verlassen. Viele der Schauspieler und Agenten des Films befinden sich jedoch noch im Iran und werden vom Geheimdienst unter Druck gesetzt." Die Geheimdienstler "stürmten das Büro des Kameramanns, und seine gesamte Arbeitsausrüstung wurde beschlagnahmt. Sie hinderten auch den Tontechniker des Films daran, nach Kanada zu reisen. Während der Verhöre der Filmcrew forderten die Geheimdienstler sie auf, mich unter Druck zu setzen, damit ich den Film vom Festival in Cannes zurückziehe."

Das Festival in Cannes wird heute Abend eröffnet, die Filmkritiker bieten einen ersten Ausblick. Es ist ein Jahrgang unter den Eindrücken von MeToo, die jüngsten Skandale um Gérard Depardieu, Jacques Doillon und Benoît Jacquot erschüttern die französische Filmbranche, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz. "Wie die Zeitung Le Figaro berichtet, trifft das Festival schon Vorbereitungen für zu erwartende #MeToo-Proteste im großen Stil. So hat dessen Präsidentin Iris Knobloch eigens ein Team für das Krisenmanagement angeheuert. Die Rede ist von Dutzenden Regisseuren, Schauspielern und Produzenten, denen zusätzlich öffentliche Vorwürfe wegen sexualisierter Gewalt gemacht werden könnten."

Die Gallionsfigur der Proteste ist die Schauspielerin Judith Godrèche, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Dass deren "Kurzfilm 'Moi aussi' ('Me too') nun während der Eröffnungszeremonie gezeigt werden soll, ist nicht mehr als ein Feigenblatt. Noch im vergangenen Jahr hatte sich Fremaux auf der Cannes-Pressekonferenz pikiert über die Schauspielerin Adèle Haenel geäußert, die den virulenten Sexismus in der französischen Filmbranche und in Cannes beklagte." Für Standard-Kritikerin Valerie Dirk "grenzt es nahezu an ein Wunder, dass Cannes - ein Festival, das traditionell auf l'art pour l'art und mitunter auch auf umstrittene Persönlichkeiten setzt - der MeToo-Debatte Platz einräumt. Doch vielleicht dreht sich der Mistral an der Côte d'Azur ja, seitdem mit Iris Knobloch 2022 die erste Frau an der geschäftsführenden Spitze des Festivals steht. Mit Greta Gerwig als Jurypräsidentin wurde zudem ein feministisches Statement gesetzt, auch wenn der Wettbewerb mit nur vier Regisseurinnen eine andere Sprache spricht."

Abseits dieser Debatte ist das Film-Buffet allerdings wieder reich gedeckt, Festivalleiter Fremaux hat seine internationalen Kontakte mal wieder prächtig spielen lassen: Er "und seine Kollegin Iris Knobloch ... haben einfach alle Filme bekommen, die man als Festivalmacher derzeit gerne hätte", schreibt Tobias Kniebe in der SZ. "Nach der mageren jüngsten Berlinale im Februar liest sich das diesjährige Cannes-Programm fast schon wie eine Demütigung für die deutsche Konkurrenz." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte ist gespannt auf Francis Ford Coppolas komplett aus eigener Tasche finanzierten 120-Millionen-Dollar-Blockbuster "Megalopolis", der mit einem wuchtigen Schlussakkord das Werk des New-Hollywood-Meisters abschließen soll, und auf Filme von David Cronenberg, Yorgos Lanthimos und Paul Schrader. Valerie Dirk porträtiert für den Standard den aus Mogadischu stammenden, österreichischen Regisseur Mo Harawe, der gleich mit seinem Debütfilm nach Cannes eingeladen wurde.

Weitere Artikel: Axel Weidemann (FAZ) und Tobias Kniebe (SZ) gratulieren George Lucas zum 80. Geburtstag. Thomas Klein schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf den Produzenten Roger Corman (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden Nuri Bilge Ceylans "Auf trockenen Gräsern" (Standard), Angela Christliebs Dokumentation "Pandoras Vermächtnis" über G.W. Pabst (Standard), der vom ZDF online gestellte Thriller "Unsichtbarer Angreifer" (FAZ) und die zweite Staffel von "Interview with the Vampire" (Tsp).
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Literatur

Der Schriftsteller Armin Kratzert hält in der SZ wenig davon, Kafkas Werke biografisch zu lesen: "Er war ein sehr aktiver, ganz moderner Mensch mit Hoffnungen, Ängsten und Zweifeln, mit Sinnlichkeit, Neugier und Lebenslust." In der Bibliothek der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen wurden 27 Bücher entdeckt, die aus der Bibliothek der Gebrüder Grimm stammen, meldet Tilman Spreckelsen in der FAZ. Claus-Jürgen Göpfert (FR) und Hannes Hintermeier (FAZ) gratulieren dem Verleger Klaus Schöffling zum 70. Geburtstag. Für die Welt hat Stephan Wackwitz aufgeschrieben, welche Bücher ihn geprägt haben.

Besprochen werden unter anderem Friedrich Anis Krimi "Lichtjahre im Dunkel" (FR), Yan Liankes "Der Tag, an dem die Sonne starb" (NZZ), Miranda Julys "Auf allen vieren" (SZ) und G. E. Trevelyans "Appius und Virginia" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

Die FAZ veröffentlicht mit "Rippenquallen" ein neues Gedicht von Durs Grünbein:

"Ein weicher Glaskörper, Geleestück
mit einem ersten Knochengerüst,
als hätte sie einen Kamm verschluckt ..."
Archiv: Literatur

Kunst

Jan van Eyck, La Vierge du chancelier Rolin, vers 1430, huile sur bois (chêne), Paris, musée du Louvre, inv. 1271


Ganz nah muss FAZ-Kritiker Marc Zitzmann an Jan van Eycks "Rolin-Madonna" herantreten, um das Heer an kleinen Figuren zu entdecken, die sich im Hintergrund tummeln. Geschätzt sind es über zweitausend, so der verblüffte Kritiker, der das frisch restaurierte Werk in der Sonderausstellung "Revoir van Eyck" im Louvre in Paris bewundert: "Viele bestehen bloß aus zwei, drei Pinselstrichen, Pardon: Tüpfchen. Steht man in der Kabinettausstellung, die der Louvre dem berühmten Bild ... widmet, kneift man die Augen zusammen, klebt die Nase schier an die Holztafel, auf die das Werk gemalt ist - und vermag trotzdem bei Weitem nicht alles zu erkennen. Dass die Figürchen leben, gestikulieren oder diverse Posen einnehmen, dass ihre Schimmel oder Isabellen dunkle Griffelbeine haben und dass das Ruder eines Fährmanns im Flusswasser Strudel zeitigt, sieht man erst in einem Film, der auf einem Großbildschirm in extremer Nahaufnahme durch die gemalte Liliputlandschaft führt. Welch eine Virtuosität!"

In der taz erinnert Claus Leggewie im Blick auf die Venedig-Biennale, die sich auf Kunstschaffende aus dem "Globalen Süden" konzentrieren will, daran, dass die Kategorie der "'südlichen' Schwellen- und Entwicklungsländer durch die reale Globalisierung längst überholt" ist: "Warum aber halten gerade Kunstschaffende so leidenschaftlich an dem verrotteten Ideologem fest? Die Gründe sind vielfältig. Zum einen fühlen sich Kunstschaffende immer schon und zumal bei Großereignissen wie Biennalen zu politischen Stellung- und Parteinahmen berufen. Sich provokant in aktuelle Streitfälle einzumischen, ist ein legitimes Merkmal engagierter oder politischer Kunst, doch geht diese Einmischung oft leider einher mit einer stupenden Ahnungslosigkeit über geschichtliche Zusammenhänge, gesellschaftliche Komplexität und kulturelle Ambiguität und motiviert eine vorlaute Parteinahme, die in krassen Fällen den reaktionären Spruch ins Gedächtnis rufen könnte, Künstler sollten bilden und nicht reden."

Besprochen werden die Ausstellungen "Max Pechstein - Die Sonne in Schwarzweiß" im Hessischen Landesmuseum für Kunst und Natur in Wiesbaden (tsp) , "Marcel Duchamp. La Patte" im museum FLUXUS in Potsdam (taz) und "ImPossible" im Frieder Burda Museum Baden-Baden (taz).
Archiv: Kunst

Bühne

Ulrich Seidler porträtiert für die Berliner Zeitung die Schauspielerin Lina Beckmann, die derzeit in dem Ein-Frau-Stück "Laios" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu sehen ist. Die Staatsoper unter den Linden in Berlin hat mit Elisabeth Sobotka eine neue Intendantin und mit Christian Thielemann einen neuen Generalmusikdirektor: Frederik Hansen gibt im Tagesspiegel einen kurzen Überblick zu den Plänen für die nächste Saison. In der Berliner Zeitung ist Michael Maier entsetzt, dass das neue Team die Barocktage der Staatsoper aus dem Programm gestrichen hat. In der taz bespricht Katrin Bettina Müller mehrere Stücke vom Berliner Theatertreffen, unter anderem Jette Steckels Inszenierung von Tschechovs "Die Vaterlosen". Besprochen wird Anne Teresa De Keersmaekers Tanzstück "Il Cimento dell'Armonia e dell'Inventione" nach Antonio Vivaldi beim Kunsten Festival des Arts in Brüssel (FAZ).
Archiv: Bühne
Stichwörter: Berliner Theatertreffen

Musik

Einfach nur abscheulich fand Lena Karger (FAZ), wie beträchtliche Teile des Saalpublikums, aber auch andere Musiker des ESC mit der israelischen Sängerin Eden Golan umgegangen sind: Das war "nichts anderes als widerlicher menschenbezogener Hass. Er richtete sich gegen sie als Teil einer Gruppe: als Israelin. Die junge Frau wurde bedrängt, gemobbt und herabgewürdigt, obgleich sie mit der israelischen Regierung nichts zu tun hat. Das Wort für diese Art des Menschenhasses ist: Antisemitismus." In der Schweiz freut sich die nonbinäre Community über Nemos ESC-Triumph, berichtet Timo Posselt auf Zeit Online.

Weitere Artikel: Günther Haller blickt für die Presse auf die steinige Entstehungsgeschichte des Brucknerhauses in Linz. Ljubiša Tošić ist im Standard gespannt auf das Konzert von Peter Herbert am kommenden Donnerstag in Wien. Besprochen werden ein Auftritt des Brad Mehldau Trios (FR), Danger Dans Auftritt beim Klavierfest des Lucerne Festivals (NZZ) und Kahil El'Zabars Auftritt mit seinem Heritage Ensemble beim Berliner Xjazz-Festival (Tsp).
Archiv: Musik
Stichwörter: Golan, Eden, Esc, Antisemitismus