9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

2302 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 231

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2024 - Gesellschaft

Große Empörung löst ein Video aus Sylt aus, bei dem in einer Luxusbar zum Stampfen eines Partyschlagers Parolen wie "Ausländer raus" gegrölt werden. Das ist leider kein Einzelphänomen, sondern geradezu ein Trend, berichten Jean-Philipp Baeck und Anne Fromm in der taz: "Bekannt wurde die rechte Vereinnahmung des Partyhits im Oktober 2023, als eine Gruppe Männer auf dem Erntefest im vorpommerschen Bergholz bei dem Gesang gefilmt wurden. Seither häufen sich die Vorfälle, deutschlandweit. Auch auf Sylt war über Pfingsten der Fall im Pony nicht der einzige: Im benachbarten Luxusschuppen Rotes Kliff wurde ebenfalls die Parolen zu dem Song gegrölt, wie die Betreiber mitteilten."

Lisi Maier, Co-Direktorin der Bundesstiftung Gleichstellung, betont im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz die Unabhängigkeit ihrer Institution, auch wenn sie vom Bundesfamilienministerium finanziert wird. Zweck der Stiftung ist die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland. Aber Maier beruhigt auch in diesem Punkt: "Das Stiftungsgesetz beruht auf Artikel 3, Absatz 2, des Grundgesetzes: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Auch wenn das binär formuliert ist, erkennen wir die gesellschaftliche Realität und das geänderte Personenstandsrecht an. Wir bilden zum Beispiel in unserer Öffentlichkeitsarbeit mehr als zwei Geschlechter mit dem Genderstern ab."

Im Spiegel versucht Rene Pfister Judith Butler zu fassen. Es gelingt ihm auch nach Lektüre ihres neuen Buchs "Who's Afraid of Gender?" nicht. Eigentlich ist Butler an "konkreter Politik nur wenig interessiert", meint er. "Sie ermunterte ihre Adepten, den Widerstand gegen tradierte Geschlechterrollen als Performance zu betrachten, als lustvolle Verweigerung, sich der 'heterosexuellen Matrix' zu unterwerfen. Es ist eine unheimlich reizvolle Form des politischen Engagements. Wer will sich noch in die Mühsal des politischen Tagesgeschäfts begeben, in den Kampf um Gesetze und Verordnungen, wenn man doch mit den Pronomen 'they/them' signalisieren kann, auf der richtigen Seite zu stehen? ... Der von Butler mitinitiierte Streit, was genau eine Frau ausmacht, hat möglicherweise im linken Lager so viel Kraft absorbiert, dass die Konservativen in den USA mühelos ihre Pläne durchsetzen konnten. Am 24. Juni 2022 kippte der amerikanische Supreme Court das bundesweite Recht auf Abtreibung in den Vereinigten Staaten. Es war ein politischer Erfolg, der über Jahrzehnte mit ebenjener zähen politischen Kärrnerarbeit vorbereitet worden war, die aus Sicht vieler junger Feministinnen ebenso uninspirierend wie fruchtlos ist. Wenn man so will, hat Butler die politische Linke nicht nur merkwürdig entpolitisiert, sondern auch gegen sich selbst in Stellung gebracht."

Yannic Walther erinnert in der taz an ein äußerst missliches Kapitel Berliner Stadtpolitik: Vor zwanzig Jahren verkaufte die Stadt unter Bürgermeister Wowereit und Finanzsenator Sarrazin Zehntausende kommunale Wohnungen an private Investoren für'n Appel und 'n Ei: "Die GSW mit ihren 65.700 Wohnungen geht für gerade mal 405 Millionen Euro an ein Konsortium der amerikanischen Immobilienfonds Whitehall und Cerberus. Dabei übernehmen die Käufer auch die Unternehmensschulden von über 1,5 Milliarden Euro." Also, ähem, 28.919 Euro pro Wohnung, ungefähr so 450 Euro pro Quadratmeter? Grund war die angespannte Finanzlage der Stadt: "Infolge des Berliner Bankenskandals muss das Land mit einer Kapitalzuführung und der Übernahme von Milliardenrisiken aus den Immobiliengeschäften der Bank einspringen. Eine erfolgreiche Verfassungsklage der Opposition gegen den von SPD und PDS vorgelegten Landeshaushalt zwingt die noch verhältnismäßig neuen Regierungspartner schließlich zu weiteren Einsparungen. 'Sparen, bis es quietscht' ist das von Wowereit ausgegebene Motto für die kommenden Jahre."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2024 - Gesellschaft

75 Jahre Grundgesetz, schön und gut. Aber gerade der Artikel 5, der die Meinungsfreiheit garantiert, ist heutzutage angekratzt, meint der Rechtsprofessor Christoph Degenhart in der FAZ - und dies durch den Staat selbst. Zum einen, so Degenhardt, sei der Staat eifrig dabei, "die Grenzen der Strafbarkeit zu verschieben", etwa wenn es um die Beleidigung von Politikern geht. Und dann stört ihn immer intensiveres "staatliches Informationshandeln durch unmittelbare wie mittelbare mediale Aktivitäten staatlicher Stellen". In diesem Kontext sieht Degenhardt auch das geplante Demokratiefördergesetz, das Organisationen der angeblichen Zivilgesellschaft sozusagen verstaatlichen will. "So begrüßenswert das Anliegen erscheinen mag: Nicht nur sind staatlich alimentierte Nichtregierungsorganisationen ein Widerspruch in sich. Staatliche Finanzierung bedeutet Staatsnähe, schafft Abhängigkeiten und staatliches Einflusspotenzial."

Erstaunlich religiöse Momente erkennt Thomas von der Osten-Sacken in der Jungle World in der Gazamanie heutiger Demonstranten: "Gaza, das ist das Gute, das leidet und gequält wird - auch das ein immer wieder kehrendes religiöses Motiv - und Israel das Böse, das es quält. Gaza ist quasi Jesus in unserer Zeit. Und das macht diese ganze Bewegung so ungeheuer problematisch, denn in ihr aktualisieren sich ganz alte europäische Traditionen, in denen die Juden als Jesusmörder eine zentrale Rolle spielten. By the way, viele Islamisten haben diese Idee inzwischen übernommen, schließlich ist Jesus der zweitwichtigste Prophet im Islam, während in der Szene daran gearbeitet wird, aus Jesus sozusagen den ersten Palästinenser zu machen."

Gestern wurde das kurzzeitig von antiisraelischen Demonstanten besetzte Institut für Sozialwissenschaften der HU Berlin geräumt. Uni-Präsidentin  Julia von Blumenthal betonte, dass sie die Räumung nur auf Weisung von ganz oben verlanlasst hatte. Bei der Besetzung wurden missliebige Professoren auch direkt angegangen, wie etwa der Migrationsforscher Ruud Koopmans.
Indien mag nach außen wie ein riesiges Land der Vielfalt erscheinen, nach innen ist es jedoch fast monolithisch in seinem Glauben an Premierminister Narendra Modi und das Kastensystem, schreibt in der NZZ der in Oxford lehrende Historiker Pratinav Anil: "Bhimrao Ramji Ambedkar, der Verfasser der indischen Verfassung und einer der wortgewaltigsten Kritiker des Hinduismus, ging so weit, das Kastensystem als Kern des Glaubens zu bezeichnen. Es handle sich um ein System der 'abgestuften Ungleichheit', in dem die Gesellschaft durch 'aufsteigende Grade des Hasses und absteigende Grade der Verachtung' zusammengehalten werde. Darin kenne jeder seinen Platz. Niemand komme auf Ideen, die über seinen Stand hinausgingen." Damit kommen übrigens nicht nur die meisten Hindus gut klar, meint Anil. "Das Kastensystem ist Muslimen, Sikhs und Christen keineswegs fremd. Im indischen Islam findet sich eine Kopie des hinduistischen Kastenwesens: Es gibt die Ashraf, die oberen Kasten, die so tun, als würden sie von nahöstlichem Adel abstammen; dann die Ajlaf, welche minderen Kasten angehören, und schliesslich die Arzal, 'Unberührbare' und Ausgestoßene."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.05.2024 - Gesellschaft

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Buch in der Debatte

Im Interview mit der Berliner Zeitung wünscht sich die Berliner Autorin Sineb El Masrar eine gelassenere Diskussionskultur in Deutschland - ein Thema, dem sie sich auch in ihrem neuen Buch "Heult leise, Habibis" widmet: Zu viel Emotion, zu viel Angstmacherei beherrsche oft die Debatten. Beispiel Gazakrieg: "Man kann mit diesen Menschen sprechen, aber wenn jemand in seinen Wahnvorstellungen bleiben will, kann man mit dieser Person nur über ihre persönlichen Probleme reden. Wir müssen diese Menschen nach ihrer Geschichte fragen: Was hat dieser Konflikt mit dir zu tun? Wieso bist du hier? Was treibt dich an? Und letztlich wird man merken, dass es nicht um Gaza geht. Den Menschen im Gazastreifen ist mit solchen Aktionen nicht geholfen. Die Motivation dieser Leute ist eine durch und durch egoistische. Es geht allein um ihr Gefühl, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Und genau damit muss man sie konfrontieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diese Menschen sich endlich mit ihren persönlichen Problemen auseinandersetzen müssen. Die Weltpolitik ist nur ein Mittel zum Zweck und dieses Verhalten ist verantwortungslos."

Auch Eva Menasse ruft heute in der Zeit zu mehr Gelassenheit auf.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.05.2024 - Gesellschaft

Im Tagesspiegel-Interview mit Tessa Szyszkowitz äußert sich der Nahost-Experte Rashid Khalidi zu den Studentenprotesten an der Columbia-University. Er sieht durch die Einsätze der Polizei die Redefreiheit bedroht, den Protest sieht er als legitim an - ein Problem mit Antisemitismus kann er nicht erkennen: "Die Studierenden haben sich der Gewaltlosigkeit verschrieben, sie sind rücksichtsvoll. Sie bestehen nur auf ihr verfassungsmäßiges Recht auf freie Meinungsäußerung, um gegen das Einspruch zu erheben, was sie als Völkermord in Gaza ansehen. Wir hatten auch Studenten, die israelische Flaggen schwenkten. Es gab Leute, die die Demonstranten Hamas-Terroristen nannten. Das ist ihr Recht, so etwas zu behaupten. Aber den Studierenden das Recht abzusprechen, protestieren zu dürfen, halte ich für falsch."

Pascal Bruckner erinnert derweil in der NZZ an die erschreckenden Szenen, die sich kürzlich vor der Universität abspielten: Anhänger der radikalen "Students for Justice in Palestine" sangen vor dem Tor der Columbia-University Hymnen auf die Kassam-Brigaden. Die Palästinenser, schreibt Bruckner, sind für Teile der Linken "zu den neuen Verdammten der Erde geworden" und zwar "weil sie nichts anderes als eine Idee sind, eine Abstraktion, auf die man sein Ideal der Gerechtigkeit projizieren kann. Und das unabhängig vom historischen oder geografischen Kontext." In dieser "neuen Mythologie", so Bruckner, "ist der Palästinenser der letzte gute Wilde, der selbst dann unschuldig ist, wenn er seinen Opfern die Kehle durchschneidet. Sein Terrorismus wird mit seiner angeblichen Verzweiflung entschuldigt. Er ist die große christliche Ikone, die von der extremen Linken getragen wird. Die Seligsprechung dauert seit siebzig Jahren an. Man erweist jedoch der Sache der Palästinenser einen schlechten Dienst, wenn man ihren Kampf um Selbstbestimmung zum Jihadismus erklärt, der für die Mehrheit der westlichen und arabischen Welt ein Schreckgespenst darstellt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.05.2024 - Gesellschaft

Die Proteste gegen Israel sind sehr wohl antisemitisch, schreibt die israelische Soziologin Eva Illouz, die in der SZ die Geschichte der Verbindung zwischen Antizionismus und Antisemitismus nachzeichnet. Unter anderem zerlegt sie das Argument, "dass die Beteiligung von Juden an einer Bewegung diese vom Vorwurf des Antisemitismus befreit": Dabei handele es sich "ebenfalls um eine alte, von den Sowjets gepflegte Trope (einige jüdische sowjetische Kommunisten verfolgten andere Juden). ...  Seit dem 18. Jahrhundert haben Juden versucht, zu der jeweiligen Kultur und Gesellschaft zu gehören, in der sie leben, und der Antizionismus war eine Möglichkeit, diese Zugehörigkeit zu erlangen, ob in der Sowjetunion oder in westlichen Ländern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der jüdische Antizionismus eine legitime Meinung, die in die Debatten über die Rolle, die der Nationalismus in der jüdischen Existenz spielen sollte, eingebunden war. Aber die Bedeutung des Antizionismus hat sich heute stark verändert und ist nicht mehr Gegenstand interner Debatten über die beste Überlebensstrategie. Diverse politische Akteure haben ihn sich schlicht zu eigen gemacht, um ihr Ziel der Beseitigung des jüdischen Staates zu legitimieren."

Für den Spiegel haben Laura Backes und Tobias Rapp Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen und die Autorin Emilia Roig zum deutschen Antisemitismus und zum Nahost-Krieg befragt - und beide geraten immer wieder aneinander: Engel etwa hält den Krieg für "notwendig", Roig spricht von "Genozid". Verteidigt sich Israel nicht, wird es "einen zweiten, dritten, vierten und fünften 7. Oktober geben", glaubt Engel: "In Deutschland wird gern unterschlagen, was Israel alles tut, um die Zivilbevölkerung zu schützen - und was die Hamas tut, um die Zivilbevölkerung zu gefährden, um weitere Tote zu provozieren, um den Krieg der Bilder zu gewinnen." Roig erwidert: "Die israelische Armee ist eine der fähigsten Armeen der Welt. Wenn es ihr nur darum gehen würde, die Hamas zu vernichten, würde sie das auch tun. Es geht Israel aber nicht nur darum, sondern um eine kollektive Bestrafung der Palästinenser."

"Was wir an den Universitäten mit ihren Protestcamps sehen, ist das intellektuell und lebensweltlich insuffiziente Gebölk um alles, nur nicht um die konkrete Verbesserung palästinensischer Lebenslagen", antwortet Jan Feddersen in der taz Naika Foroutan, die im Tagesspiegel geschrieben hatte: Wer, wenn nicht Studierende, sollten auf "Unrecht aufmerksam" machen. (Unser Resümee) "Warum kommt auch einer demokratisch orientierten Sprecherin wie Naika Foroutan nicht in den Sinn, dass in nichtakademischen Bereichen, etwa in Industrie- und Handwerksbetrieben, im schlecht bezahlten Dienstleistungs- und Care-Bereich nicht weniger, sondern ebenso viel Kraft zur volksintellektuellen Arbeit steckt?" Und auch "die Mehrheit aller Migrantinnen* in Deutschland hat mit alldem nichts zu tun. Sie wollen das, was sie bei ihrer Flucht oder, neutraler gesagt, Ankunft in Deutschland ersehnten: ein ruhiges Leben ohne Politzwänge und Bekenntnisorgeleien, ein Leben in Respekt und mit Arbeit, die Kinder versorgen..."

Weitere Artikel: In der NZZ erinnert Reinhard Mohr, welchen Massenmördern linke Revolutionäre schon hinterhergelaufen sind: "Die revolutionäre Ahnengalerie sinkt qualitativ und ist nun beim bärtigen Militärchef der Hamas, Yahya Sinwar, angekommen. Die stalinistische Ära war noch eine Tragödie, nun nähern wir uns der - allerdings blutigen - Farce, wie Marx prophezeite."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2024 - Gesellschaft

Der Großteil der Demonstranten will den immer wieder zutage tretenden Antisemitismus nicht sehen, schreibt Anastasia Tikhomirova, die der progressiven Linken auf ZeitOnline ein paar Fragen stellt, etwa, "weshalb sie sich ausschließlich für die Opfer westlicher Kriegsmächte starkmachen, jedoch nicht für jene von imperialen und autokratischen Machthabern im Globalen Süden. Wieso beispielsweise die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit im Sudan nicht annähernd so viele Menschen auf die Straßen bringt wie die Lage in Palästina. Wieso sie keine Sit-ins und Protestcamps gegen westliche Handelsbeziehungen mit autoritären Regimen wie Aserbaidschan, Iran, Russland oder der Türkei organisieren. Warum sie nicht auch die Freilassung der Hamas-Geiseln fordern. Man könnte sie auch fragen, warum sie die Unterdrückung, die Palästinenser nicht durch Israel erfahren, nicht zu interessieren scheint. Diese leben im Libanon und Syrien beispielsweise als Bürger zweiter Klasse. Die Realität ist auch, dass Palästinenser unter den Entscheidungen der Hamas, ihrer Kompromisslosigkeit und ihrer Bereitschaft, unzählige Zivilisten für den Sieg über Israel als 'Märtyrer' zu opfern, leiden."

Mit '68 haben die propalästinensischen Proteste an amerikanischen Unis rein gar nichts zu tun, schreiben die Studenten Franziska Sittig und Noam Petri in der FAZ. Vor allem, weil sie inzwischen stark von nicht-studentischen Aktivisten geprägt seien: "Das sticht besonders bei der Studentengruppe Students for Justice in Palestine (SJP) ins Auge. Nach einem Bericht der Foundation for Defense of Democracies, eines bekannten amerikanischen Thinktanks, wird die SJP direkt von den American Muslims for Palestine (AMP) kontrolliert und finanziert. Die AMP wurde ihrerseits von früheren Mitarbeitern von Pro-Hamas-Wohlfahrtsorganisationen gegründet. Die als gemeinnützige Organisationen eingetragenen Gruppen haben laut dem Bericht Jahrzehnte lang Spenden in Millionenhöhe für Waffenlieferungen an die palästinensische Terrorgruppe gesammelt, bevor sie von amerikanischen Behörden zerschlagen wurden. Die AMP betreibt heute umfangreiche Lobbyarbeit auf dem Capitol Hill. ... Der 7. Oktober wurde von SJP-Gruppen als 'historischer Sieg für den palästinensischen Widerstand' gefeiert, Hamas-Terroristen als 'Märtyrer' gepriesen und der darauffolgende 12. Oktober zum 'National Day of Resistance' erklärt."

"Wenn man durch eine auf Dauer angelegte Besetzung Fakten schafft und wissenschaftlichen Austausch verhindert, halten wir das auf dem Campus nicht für zulässig", rechtfertigt Günter Ziegler, Präsident der FU Berlin, im Gespräch mit der SZ die von ihm veranlasste Räumung des Protestcamps. Er selbst habe "als Universitätspräsident kein allgemeinpolitisches Mandat. Aber es gibt Grundsätze, die nicht zur Debatte stehen. Dazu gehören das Existenz- und das Selbstverteidigungsrecht Israels. Das ist Staatsräson, dieser Konsens muss für alle gelten, und das muss ich gewährleisten. Alles, was weitergeht, also Fragen der Kriegsführung, die Frage, ob man einen Waffenstillstand fordern muss, die Visionen für eine Friedenslösung - das sind politische Fragen, zu denen ich als Präsident keine Aussagen mache."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.05.2024 - Gesellschaft

Die Proteste an der FU findet der Rechtswissenschaftler Nils Jansen unerträglich, und doch hat er den Dozentenaufruf unterschrieben, denn das Vorgehen des Berliner Senats ist "wahrscheinlich rechtswidrig, jedenfalls aber geschichtsblind", schreibt er auf den Geisteswissenschaftenseiten der FAZ. Rechten Gruppierungen tritt der Staat mit weniger Härte gegenüber, kritisiert Jansen, der einräumt, dass zwar gegen einzelne rechtswidrige Parolen vorgegangen werden, ansonsten aber Meinungsfreiheit gewahrt bleiben muss. Denn im Gaza-Krieg prallen nun mal verschiedene Geschichtsbilder aufeinander: "Wie in der regierungsamtlichen 'Staatsräson' Erinnerungen an den Holocaust, die Proteste von 1968 und den Historikerstreit zum Ausdruck kommen, entladen sich in den Gaza-Protesten kollektive Erfahrungen von Vertreibung und Diskriminierung. Dass solche Erfahrungen Identitäten prägen, macht die Konflikte umso schmerzlicher. Historische Fakten sind beweisbar. Ihre Bewertung und politische Deutung sind es nicht. Hier gibt es kein Wahr und kein Falsch. Wo Konflikte in dieser Weise unversöhnlich werden, kommt das Recht ins Spiel. Es gewährleistet ein Zusammenleben ohne politische Verständigung; und genau deshalb gelten die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit: Da es kein Wahr und Falsch gibt, stellt das Recht sich blind gegenüber dem Gesagten."

Die Dozenten, die sich auf die Seite derer stellen, "die diese Ideologie, die in großen Teilen Antisemitismus befeuert, verbreiten", sind "Mittäter", meint indes Ahmad Mansour im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen: "'Es ist ein Kulturkampf, der überall im freien Welt gerade stattfindet. Und wir behandeln nur symptomatisch das, was auf der Haut sichtbar wird. Aber dass es hier um was ganz anderes, tiefgreifendes geht, haben die meisten nicht verstanden.' Mansour meint, die Leitungen der von den Besetzungen und antiisraelischen Protesten betroffenen Universitäten hätten seit Monaten versagt. 'Ich rufe hier dazu auf, dass sie ihr Amt einfach niederlegen und dass wir neue Strukturen schaffen, die auch bereit sind, diesen Kampf zu führen und für Ordnung zu sorgen - und dafür zu sorgen, dass sich jüdische Studenten einfach sicher fühlen an dem Campus, was im Moment nicht der Fall ist."

Sehr unzufrieden resümiert Thomas Thiel ebenfalls in der FAZ eine Hochschuldirektorenkonferenz zum Nahost-Konflikt, bei der zwar über den Umgang mit illiberalen Tendenzen an Unis diskutiert werden sollte, wesentliche Fragen aber umgangen wurden: "Wie soll die Wissenschaft darauf reagieren, dass die illiberalen Tendenzen auch aus ihren eigenen Reihen kommen, etwa in Gestalt von Hochschullehrern, die Gewaltaufrufe in Schutz nehmen oder sie, wie die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, im Internet noch mit geschmacklosen Hitlerwitzchen kommentieren? Wie kommt es, dass diese Haltung besonders in einem akademischem Milieu gedeiht, das sich in besonderer Weise dem Schutz von diskriminierten Randgruppen verschrieben hat? Warum werden bestimmte Formen des Antisemitismus in der akademischen Forschung vernachlässigt oder sogar bewusst ausgeblendet? Warum unterschreiben Wissenschaftler offene Briefe, die sich auf fragwürdige Quellen berufen? Warum müssen Klimaaktivismus und Queerness mit einer antiisraelischen Haltung einhergehen?"

Im Tagesspiegel warnt hingegen Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der HU davor, die Proteste der Studierenden pauschal als "antisemitisch" abzuurteilen. Vielmehr müsse über konkrete Strategien nachgedacht werden, wie "friedlichen Protestaktionen Raum gegeben und gleichzeitig die Latenz und Gefahr des Antisemitismus" diskutiert werden kann. Dazu gehöre aber auch "zu klären, was nicht antisemitisch ist, gerade weil fast jedes Sprechen über den Konflikt so toxisch ist und das Begriffsarchiv des außerparlamentarischen Widerstands diskreditiert wirkt. Es wäre wichtig für unsere demokratische Kultur, hier verbal abzurüsten und den Studierenden die Fähigkeit zu dieser Komplexität nicht von vorneherein abzusprechen. Dort, wo sie offensichtlich fehlt, in Agitation umschlägt und von radikalisierenden Akteuren überschattet wird oder gar eine Straftat geschieht, muss dies verfolgt werden. Parallel wäre es die Aufgabe von uns Lehrenden, die Kritikfähigkeit so zu schärfen, dass dies aus den eigenen Reihen der Studierenden erkannt und unterbunden werden kann. Das muss eine gemeinsame Aufgabe sein."

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"In zehn Jahren wird die Hälfte der Diaspora-Juden die Diaspora verlassen haben", glaubt die Schriftstellerin Mirna Funk, aktuelles Buch "Von Juden lernen", die in der Jüdischen Allgemeinen vor allem Vorwürfe gegen Deutschland erhebt: "Wir haben uns die vergangenen 70 Jahre den Mund fusselig geredet und den Deutschen Antisemitismus, den Holocaust und uns selbst erklärt. Wir haben Steuern an einen Staat gezahlt, der uns, das ist meine Überzeugung, nicht schützen wird, wenn es darauf ankommt. Und wir haben uns ein Leben aufgebaut, das radikale Linke am liebsten 'enteignen' wollen, wie es schon ihre Urgroßeltern forderten. Seit nunmehr sieben Monaten frage ich mich, ob ich will, dass meine Tochter zukünftig in der Schule als 'Zionistin' beschimpft wird oder über einen Haufen Palästinensertuch-tragender Spinner steigen muss, um in ihr Universitätsgebäude zu gelangen. In einer Welt, in der die angeblich progressiven Weltverbesserer selig und selbstsicher 'There is only one solution, Intifada Revolution' rufen, ist das Leben von Juden nicht mehr lebenswert."

Die schwarze Queerfeministin Michaela Dudley beklagt in der Berliner Zeitung die fehlende Solidarität ihrer Community mit Israelis und Israelinnen nach den Hamas-Attentaten und ruft ihre Mitstreiterinnen dazu auf, ihre ideologisch verengte Perspektive zu erweitern: "Der von Identitätspolitik fragmentierte BIPoC-Feminismus bringt es einfach nicht fertig, über den eigenen Schatten zu springen und die misogyne Gewalt gegen weiße Schwestern zu verurteilen. Auch die Black Panthers, die wutschäumend den Tod von George Floyd rächen wollten, kriegen nun die Zähne kaum auseinander, wenn es darum geht, die Behandlung des Tansaniers Joshua Mollel zu ächten. Mollel, 21, wurde am 7. Oktober durch die Hamas im Kibbuz Nahal Oz vor laufender Kamera rassistisch beschimpft, entführt und gnadenlos hingerichtet." Das Bündnis "müsste übrigens nicht auf Kosten der Anteilnahme mit den Palästinenser:innen sein. Auch wenn ich Freundin Israels bin, betreue ich seit 2018 einige queere Geflohene palästinensischer Herkunft im Ehrenamt mit. Eine Aufgabe, mit der sich die Hamas huldigenden 'Queers for Palestine' komischerweise nicht befassen."

Weitere Artikel: Petra Gehring (FAZ) resümiert und begrüßt einen Unherd-Text von Kathleen Stock, in dem sich die britische Philosophin gegen die Rhetorik von Sterbehilfe-Kampagnen positioniert. Stock kritisiert "eine umfassende Emotionalisierung" der Debatte und befürchtet: "Die Lobby für den assistierten Suizid habe bereits gewonnen, so ihre Feststellung. Früher oder später werden liberale Demokratien durchgehend diese Dienstleistung bieten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2024 - Gesellschaft

Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, ein ehrwürdiger, von Max Weber begründeter Verband mit 3.500 Mitgliedern, veröffentlicht eine Stellungnahme zum Berliner Dozentenaufruf und zur Räumung eines Camps antiisraelischer Studenten auf dem Campus der FU. Besondere Empörung äußert das Papier über "mediale Diffamierung und personalisierte, pauschale Verurteilung von Lehrenden" und spielt auf die mit "Universitäter" betitelte Bild-Zeitungsseite an, die einige der Unterzeichner des Aufrufs namhaft gemacht hatte. "Es ist zutiefst beunruhigend, dass in einer aktuellen Kampagne … Wissenschaftler - darunter auch jüdische und renommierte Forscher zum Nationalsozialismus, der Shoah und im Bereich des Antisemitismus - durch Massenmedien individuell angeprangert und (ausgerechnet) in Deutschland als 'Täter' (sic!) diffamiert werden. Es scheint, dass dabei bestimmte Disziplinen (so auch die Soziologie) und Forschungsfelder (etwa die Postcolonial Studies) als angeblich per se politisch und antisemitisch ins Visier genommen werden." Das ausschließlich von der Vorsitzenden Paula-Irene Villa Braslavsky gezeichnete Papier will sich nicht inhaltlich zum Gegenstand des Protests äußern, verurteilt Antisemitismus, verwahrt sich aber auch nicht gegen Forderungen der Demonstranten, die eine Einstellung der Zusammenarbeit mit israelischen Unis fordern - um Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit scheint es dem Papier also nicht zu gehen.

Wer sich in seiner Meinungsfreiheit behindert fühlt, soll doch einfach klagen, meint Jürgen Kaube in der FAZ, entnervt von den Behauptungen, wir lebten in einer Zeit des McCarthyismus in Deutschland, weil die Polizei ein paar Studenten vom Universitätsgelände entfernt. Noch mehr nervt ihn aber die Heuchelei dieses Diskurses. Dazu gehört für ihn auch die Behauptung, man sei in der Sache neutral. "Wird behauptet, 'There is only one solution, intifada revolution', führt die advokatorische Tiefenhermeneutik dazu, den Begriff der 'Intifada' von den Terrortaten zu lösen, die in seinem Namen begangen worden sind. Es könne damit auch etwas anderes als Terror gemeint sein. Wir wollen die Möglichkeit nicht ausschließen, aber ist damit etwas anderes als Terror gemeint? Es heißt dann, solche Parolen seien 'nicht notwendig' mit der Zerstörung des Judenstaates verbunden. Dass sie empirisch auf das Ende Israels hinauslaufen und dass dieses Ende weltweit von den Antisemiten gewünscht ist, bleibt außer Betracht." Kaube wüsste auch gern, ob solche argumentativen Finessen auch gälten, wenn "Nazis mitdemonstrieren".

In der FAZ kritisiert Andreas Kilb das neue Gedenkstättenkonzept Claudia Roths, weil es den Unterschied zwischen staatlich organisierten Verbrechen (in NS-Deutschland und in der DDR) und den Verbrechen verwische, die Einzelne oder Gruppen gegen andere Einzelne oder Gruppen begehen (wie z.B. die NSU-Morde): "Der grundsätzliche Denkfehler des Rahmenkonzepts ist die Verwechslung von Staat und Gesellschaft. Die Gesellschaft muss die Zuwanderer integrieren, ihre Leistungen würdigen, ihre Rechte schützen, aber der Staat muss ihnen keine Denkmäler bauen." Auch die "narrative Verknüpfung" des Holocaust und der Kolonialverbrechen stößt Kilb auf: Denn "der Zusammenhang zwischen dem Holocaust, der Gründung Israels und der deutschen Garantie seiner Existenz ist kein Narrativ, sondern eine historische Tatsache, während die Behauptung kolonialer Kontinuitäten in der Politik 'des Westens' gegenüber Afrika und der arabischen Welt in der Tat ein Ideologem des postkolonialen Denkens darstellt."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.05.2024 - Gesellschaft

Die antiisraelischen Studenten in westlichen Universitäten begnügen sich nicht mit ihren "From the River to the Sea"-Rufen, sie haben auch handfeste Forderungen an ihre Unis. Vor allem drängen sie die Uni-Leitungen im Sinne der BDS-Organisation, die Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten einzustellen. Uri Schneider berichtet in einem erhellenden Beitrag für 3sat-"Kulturzeit" über Erfahrungen israelischer WissenschaftlerInnen mit Boykott. Unter anderem spricht hier die israelische Araberin Mouna Maroun, die vor kurzem zur Vizepräsidentin der Uni Haifa ernannt wurde.



Eingeknickt gegenüber den Forderungen antiisraelischer Studenten ist zum Beispiel das berühmte Trinity College in Dublin, berichtert Ralf Sotschek in der taz: Man will israelische Unternehmen boykottieren, die in den besetzten palästinensischen Gebieten tätig sind, vor allem den Studentenaustausch mit Israel überdenken und statt dessen mehr palästinensische Studenten einladen. Die Iren handeln hier auch ökonomischen Motiven, vermutet Sotchek:  "Der Campus in Dublin, der im Herzen der irischen Hauptstadt liegt, war während des Protests für die Öffentlichkeit geschlossen, was die Hochschule viel Geld kostete, weil Touristen das Book of Kells nicht sehen konnten. Diese illustrierte Handschrift der vier Evangelien aus dem Jahr 800 ist in einem Glaskasten in einem abgedunkelten Raum der Universität ausgestellt. Es ist eine der größten Touristenattraktionen der irischen Hauptstadt und bringt dem College 350.000 Euro in der Woche ein. 'Ich denke, die Einnahmeverluste waren ausschlaggebend', sagte Ruby Topalian, eine Redakteurin der Studentenzeitung Trinity News. Sie begrüße die Vereinbarung, die weiter gehe als bei anderen Universitäten."

An der Harvard Uni kursiert nun zum Glück auch ein offener Brief von Dozenten, die vor Boykott warnen - allerdings meist Professoren aus den MINT-Fächern. Hier heißt es: "Akademische Freiheit ist nicht verhandelbar. Harvard sollte niemals die Rechte seiner Dozenten, Studenten und Mitarbeiter aufgeben, sich in der Forschung zu engagieren und wissenschaftliche Kooperationen einzugehen, die den Anspruch der Forschung fördern. Jedes Zugeständnis in dieser Hinsicht, einschließlich geringfügiger Anpassungen der derzeitigen Harvard-Verfahren oder der Zusage, diese im Lichte der Agenda der Demonstranten zu überprüfen, wird wahrscheinlich als Politisierung der Harvard-Verfahren ausgelegt werden."

Jan Thiessen, Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin kommt in der FAZ nochmal sehr polemisch auf den Berliner Dozentenaufruf (unser Resümee) zurück, der forderte, die antiisraelischen Studenten auf dem Campus der FU unbehelligt zu lassen und mit ihnen in den Dialog zu treten. Mit dem Argument der akademischen Freiheit sei dieser Brief nicht zu rechtfertigen, so Thiessen, denn "der Protest fordert akademische Freiheit für sich selbst, verlangt aber von den Universitäten, dass diese Israel akademisch boykottieren". Und übrigens kann eine Uni-Leitung nicht agieren wie ein Fürst auf seinem Territorium: "Polizeieinsatz und Strafverfolgung stehen nicht im Ermessen der Universitätsleitung, wenn es um mehr als einfache Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch geht. Wer Universitäten als öffentlich deklariert, muss damit rechnen, dass die Polizei dort von sich aus ihrer Aufgabe nachgeht, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu wahren. Wer Volksverhetzung begeht oder den Hamas-Terror öffentlich billigt, muss damit rechnen, von Amts wegen verfolgt zu werden."

Michael Bielicky, bis vor kurzem Professor für Medienkunst an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, erzählt in der FAZ die Geschichte seiner Eltern, die zuerst von den Nazis dann von Stalins Schergen in der CSSR verfolgt wurden - eine grausame Geschichte, die einen zum Verstummen bringt. Dann schreibt er über seine Arbeit am Karlsruher ZKM und der Hochschule, wo es viele jüdische Künstler gab. Aber leider: "Ein bizarrer Ideologiesturm hat das Haus erreicht, gepaart mit Intoleranz und Unterdurchschnittlichkeit. Das Einzige, was überdurchschnittlich dort wurde, ist die hohe Anzahl der BDS-Sympathisanten in diesem Haus." Er selbst, schreibt er dann, "wurde wegen einer angeblichen Verschwörung gegen die Hochschule aus dem Haus herausgejagt". In der NZZ hat sich Bielicky bereits im letzten Oktober geäußert, in einer Erklärung bei der NZZ verwahrt sich die HFG gegen Bielickys Vorwürfe.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2024 - Gesellschaft

Die Welt bringt einen Text jüdischer Studenten, die auf die antisemitischen Ausschreitungen an der Columbia University reagieren: "Wir waren … nicht überrascht, als ein Anführer von 'Columbia University Apartheid Divest' (CUAD) öffentlich und stolz sagte, dass 'Zionisten nicht verdienen zu leben' und dass wir Glück haben, dass sie "nicht einfach losziehen und Zionisten ermorden'. Wir fühlten uns hilflos, als wir beobachteten, wie Studenten und Dozenten jüdische Studenten physisch daran hinderten, Teile des Campus zu betreten, den wir gemeinsam nutzen, oder als sie sogar schweigend ihr Gesicht abwandten. Dieses Schweigen ist uns vertraut. Wir werden es nie vergessen. Aber eines ist sicher. Wir werden nicht aufhören, für uns selbst einzutreten. Wir sind stolz darauf, Juden zu sein, und wir sind stolz darauf, Zionisten zu sein."

Yascha Mounk wundert sich im Spectator (die Welt hat den Text heute übernommen), nicht über die aktuellen Proteste an der Columbia University. Der weit gefasste amerikanische Begriff von Meinungsfreiheit lässt selbst Holocaust-Leugnung zu, zudem behandeln die Unis ihre Studenten wie Kinder, die verwöhnt und umschmeichelt werden müssen, schreibt er. Dazu kommt: "Heutzutage sehen sich viele Professoren und Verwaltungsbeamte als natürliche Erben der Studentenbewegung. Viele führende Universitäten beschreiben die Ereignisse von 1968 mit einer Mischung aus Stolz und Nostalgie und vermarkten sich aktiv als großartige Orte für politischen Aktivismus. Auf einer Website der New York University, die sich beispielsweise an angehende Studierende richtet, gibt es eine dreiteilige Serie darüber, wie sie lernen können, 'wie progressive Veränderungen in der Praxis aussehen'. Viele Universitäten bieten Stipendien an, die sich ausdrücklich an Aktivisten richten, und nehmen Studierende als Anerkennung für ihr Engagement an der High School auf. Sobald die Studierenden auf dem Campus ankommen, stellen sie fest, dass sich die Mehrheit des Personals weit links vom Durchschnittsbürger verortet."

Die Proteste an der Freien Universität in Berlin zeigen, wie weit die Meinungsfreiheit in Deutschland reicht, schreibt in der SZ Ronen Steinke, der jenen, die meinen sie dürften hierzulande Israel nicht kritisieren, rät, aufzuhören zu jammern: "Man kann in diesem Land das komplette Israel als 'koloniales Projekt' schmähen, man kann 'Fuck you, Israel!' im Chor skandieren, man kann fordern, dass die Uni 'akademisch und kulturell' alle Israelis boykottieren solle. Man kann das so laut tun, wie man möchte, auch so aufgewühlt, wie man sein darf und vielleicht auch sein sollte angesichts des schreienden Unrechts der israelischen Militärschläge auf zivile Ziele im Gazastreifen. (…) Man kann in Deutschland erleben, wie eine Universitätsleitung sich diesen Protest durchaus lange ansieht - bis sie irgendwann, wenn Demonstranten auch noch verschlossene Hörsäle aufbrechen und Feueralarme zerschlagen, von ihrem Hausrecht Gebrauch macht. Und wie die Polizei dann - erst dann! - die Demo auflöst, so wie es ihre Pflicht ist."

Zunächst hundert, inzwischen 300 Berliner Uni-Dozenten hatten sich in einem offenen Brief gegen die Räumung des FU-Campus gewandt: "Es ist keine Voraussetzung für grundrechtlich geschützten Protest, dass er auf Dialog ausgerichtet ist. Umgekehrt gehört es unseres Erachtens zu den Pflichten der Universitätsleitung, solange wie nur möglich eine dialogische und gewaltfreie Lösung anzustreben." (Die Antwort auf die Frage, wie genau man in Dialog mit jemand tritt, der einen Dialog ablehnt, ist wahrscheinlich weiterer Forschung vorbehalten.) Nicht allzu viele bekannte Namen bei den Unterzeichnern, darunter Michael Barenboim, Naika Foroutan, Rahel Jaeggi. Zu den 600 externen Unterstützern gehören übliche Verdächtige wie Eva von Redecker, Mithu Sanyal, A. Dirk Moses.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger äußerte sich schockiert über das Papier, berichtet etwa Daniel Bax in der taz, "das Statement mache sie 'fassungslos': Statt sich klar gegen Israel- und Judenhass zu stellen, würden die Uni-Besetzer verharmlost. Gerade Lehrende müssten 'auf dem Boden des Grundgesetzes stehen'."

Wie der "Dialog" mit den Uni-Besetzern aussah, erzählt Thomas Thiel in der FAZ: "Besonders hoch schlugen die Wellen in Berlin, wo die Proteste zunächst an der HU und später an der FU mit Polizeigewalt beendet wurden. Beide Male setzten die Demonstranten die Kommunikationsverweigerung fort. An der HU wurde die Präsidentin Julia von Blumenthal niedergebrüllt, als sie den Demonstranten ein Diskussionsangebot machte. Journalisten wurden mit Lügenpresse- oder, wie an der Freien Universität, mit NS-Vorwürfen überzogen."

Noam Petri, Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, staunt in der Jüdischen Allgemeinen über die woke Liebe zur Hamas: "Man kann sich darüber lustig machen. Es wirkt schließlich wie Realsatire, wenn woke Studenten ihren potenziellen islamistischen Schlächtern zujubeln. Trotzdem meinen sie es ernst. Diese Studenten - unsere Bildungselite? - werden in den nächsten Jahren wichtige Ämter bekleiden und versuchen, Institutionen nach ihrem Weltbild umzubauen."